Altenheimseelsorge -Sterbegegleitung im Martin-Niemöller-Haus

Sterben nicht allein

Ev. Dekanat

Es ist früh am Tag. Gustav Lemberg (Name geändert) liegt reglos im Bett. Er ist allein. Er wird sterben. Seit vier Monaten kämpft er schon – immer wieder - um Leben und Tod. Und lange schon wohnt er im Altenheim in Rüsselsheim, im Martin-Niemöller-Haus. Die Pflegerin greift zum Telefon und ruft die Seelsorgerin an. Sie weiß: Bianka Jacobsen-Mulongo wird kommen. Seit sieben Jahren ist das so. Dafür hat die Altenheim-Seelsorgerin ihr Handy immer im Blick. Sie macht sich auf den Weg zu Gustav. Sie kennt ihn schon lange. Der 84-jährige wird an diesem Montag im April – mitten in Corona - nicht alleine sterben.

11.05.2020 hf Artikel: Download PDF Drucken Teilen Feedback

Auf dem Weg erinnert sich die Seelsorgerin an Gustav. Regelmäßig war er in die Kapelle gekommen, immer mittwochs, wenn sie dort den Gottesdienst hält. Gustav hat keine Familienangehörige, nur eine gesetzliche Betreuerin. Gemeinsam haben sie oft gesungen. „Heute wird er das nicht mehr können“, denkt sie. Angekommen in der Johann Sebastian-Bach-Straße 51 wird ihr im Eingang des Hauses Fieber gemessen und zum Mundschutz legt sie noch den Schutzanzug an.  Fünf Minuten später überreicht ihr die Pflegekraft ihre Tasche mit Bibel, Gesangbuch, Öl und Aromaspray. Alles, was sie für eine „Aussegnung“ braucht.

„Ich bin jetzt bei Ihnen.“

„Guten Morgen Gustav“, begrüßt sie den ehemaligen Maurer, der zeitlebens keine Familie gegründet hat, an der Tür, zieht den Stuhl neben sein Bett und sagt. „Ich bin jetzt bei Ihnen.“ Dann sprüht sie etwas Duft in den Raum. „Es ist angenehm, wenn es für mich und den Angehörigen nach Kräutern und Wiesenblumen riecht. Sterbende können noch riechen“, erklärt sie. Der Duft verbreitet sich im Raum. Einen Moment lässt sie ihn wirken. Dann legt sie ihre Hand auf seine Brust und stimmt das Lied an, das sie immer singt. Ruhig schwingt ihr Gesang im Raum, gesellt sich zum Frühlingsduft, ruhig und getragen: „So nimm denn meine Hände“ - aus dem Evangelischen Gesangbuch - „und füüüüühreee mieech.“ Noch während der ersten Strophe spürt sie unter ihrer Hand, dass keine Bewegung mehr da ist. Gustav hat aufgehört zu atmen. Sein Herz schlägt nicht mehr. Gustav ist tot.

Gustav ist tot. 

Bianka Jacobsen-Mulongo nimmt Öl auf drei Finger ihrer Hand, beugt sich über Gustav’s Kopf und  zeichnet mit dem Öl ein Kreuz auf seine Stirn. Dabei spricht sie ein Gebet. Stille. Eine Zeit der Ruhe. Auch bei ihr steht der Atem still – zwischen dem Dies- und dem Jenseits. „Gustav hat es geschafft. Er konnte endlich loslassen“, denkt sie. Dreimal schon habe er gekämpft, in den letzten Monaten, aus der „prämortalen Phase“ zurück ins Leben. Jetzt atmet sie tief durch. Dann steht sie auf und geht aus dem Zimmer zur Pflegekraft. Es wird besprochen, dass die Pflegerin Gustav jetzt waschen kann.
Erst werden die Augen des  Verstorbenen geschlossen und dann der Mund. Das sei nicht so einfach- wegen der Totenstarre. Ein Tuch hilft dabei.

„Brauchen Sie noch etwas von mir?“

Jetzt packt die Altenheim-Seelsorgerin ihre Tasche und fragt die Pflegekraft: „Brauchen Sie noch etwas von mir?“ Daraufhin antwortet diese: „Nein, - aber vielen Dank.“
Bianka Jacobsen-Mulongo fährt nach Hause, in ihr Homeoffice. Draußen ist Frühling. Seit sieben Jahren kennt sie diesen Weg. Seitdem ist sie mit einer halben Stelle beim Ev. Dekanat Groß-Gerau-Rüsselsheim, im gemeindepädagogischen Dienst für Altenheimseelsorge angestellt. Von September 2017 bis Juni 2018 hatte sie sich fortgebildet beim „Zentrum Seelsorge und Beratung“ der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, EKHN, für „Klinische Seelsorge mit interreligiösem Schwerpunkt“. Viele Gesprächsprotokolle hat sie in dieser Zeit geschrieben, dafür ihre Seelsorge-Gespräche im Rüsselsheimer Martin-Niemöller-Haus protokolliert. Auf die Frage, ob ihr die klinische Seelsorge-Ausbildung (KSA) für ihre Tätigkeit geholfen habe, antwortet sie:  „Ja. Und der Austausch in der KSA Gruppe war super, gut und sehr wichtig."

Sterbebegleitung und noch viel mehr

Die Altenheim-Seelsorgerin wird an diesem Montag noch andere Dinge tun. Ihren Gottesdienst für Mittwoch wird sie noch schreiben, ihre Blumen und Kräuter gießen, Essen kochen, beruflich telefonieren und Projekte ausarbeiten. Bis Juli 2020 hat sie neben der Altenheimseelsorge und einem Küsterinnen-Dienst eine zusätzliche befristete halbe Stelle für „Bildung“ im Dekanat. Auch diese Arbeit – zur Vertretung ihrer Kollegin Johanna Becker in Elternzeit - macht sie mit „Schwung“.
Während dieses längeren Gespräches spürt man, dass alles, was die Gemeindepädagogin tut, eingebettet ist in Glaube und Zuversicht.
Im Gespräch werden ihr  Blick und ihr Wissen deutlich auf: zwischenmenschliche und gesellschaftliche Strukturen, Armut, die Rolle der Frau, die Schöpfung, die man durch einfaches Nutzen der vorhandenen Ressourcen bewahrt… Am Ende kommen wir auf das, was wir vermissen. Was allzu deutlich wird „in Corona“, dass Miteinander, Füreinander-da-sein-Wollen zur Zeit nur bedingt möglich ist. So kehren wir in Gedanken ins Altersheim zurück:

Die Würde des Menschen ist unantastbar.

„Das Wesentliche, was im Alter bleibt, ist der soziale Kontakt und nicht nur die reine Versorgung. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das muss man im Blick behalten“, sagt sie. Und nach einer Pause fügt sie ‚zwinkernd‘ und mit kräftiger Stimme an: „Und deswegen gibt es für mich keine Aussegnung mit Latexhandschuhen“.

Heidi Förster
Öffentlichkeitsarbeit
weitere Informationen zu Bianka Jacobsen-Mulongo
Informationen zum Martin-Niemöller-Haus 

AKTUELL - ZUM 10. Mai 2020 - Tag der Pflege: Bitte schauen Sie auch:
Informationen zum "Tag der Pflege" - DIAKONIE HESSEN

 "Ihr seid da! Dankeschön Video" mit Poetry-Slammer Lars Ruppel

https://youtu.be/K5WVUP9yOPo